37. Jahrgang · 8,50 € HHK Ausgabe 4/2021 www.hardthoehenkurier.de FÜR EIN STARKES EUROPA Hilfe in der Not Grundsatzrede des Inspekteurs der Marine Interview mit Kommandeur Logistikkommando der Bundeswehr 60 Jahre LITEF – Interview mit Geschäftsführer Lutz Kampmann Vorschau auf die AFCEA Fachausstellung ISSN 0933-3355Das Rückgrat jeder starken Truppe. Wenn Sie einen klaren Auftrag haben. Wenn weit und breit keine Straße in Sicht ist. Und wenn Ihr Job alles von Ihnen verlangt, brauchen Sie die beste Ausrüstung. Für diesen Anspruch stehen wir. Mercedes-Benz Defence Vehicles: geschützte, hoch ge ländegängige und logistische Fahrzeuge von 0,5 bis 110 t Nutzlast. Operational Readiness. Mercedes-Benz Defence Vehicles. www.mercedes-benz.com/defence-vehicles :3 Editorial Was nun? Es wäre ihr fünfter Wahlsieg. Sie würde es sicher- lich wieder schaffen. Aber Angela Merkel tritt nicht wieder an. Auf der weltpolitischen Bühne ließ sie so manchen Testosteron gesteuerten Machtpolitiker eiskalt abtrop- fen. Nur bei den gallischen Charmeuren knickte die uckermärkische Kanzlerin so manches Mal ein. Für den Zusammenhalt Europas wollte sie stets die Franzosen an ihrer Seite wissen. Dafür war sie bereit, einiges zu opfern. Und da stand die Bundeswehr, zu der sie kei- nerlei persönliche Beziehung hat, Gewehr bei Fuß. Von der Stationierung eines Jägerbataillons in Straßburg gegen den Willen des BMVg, nur um Sarkozy von der Rückverlegung der französischen Truppenteile in Deutschland abzuhalten, bis hin zur massiven Förde- rung so manches Rüstungsvorhabens, von dem eher die Franzosen als die Deutschen profitieren. Nun stellt sich die Frage, wer uns künftig regieren soll. Da sind sich viele Wähler noch nicht schlüssig. Was hat man vom wem in welcher Koalition zu erwar- ten? Leider sind im Wahlkampf die sicherheits- und verteidigungspolitischen Aspekte nicht dominierend. Umweltfragen, die Bewältigung der Corona-Krise und anderes mehr stehen im Mittelpunkt. Wird so die Zukunft der Bundeswehr „Beifang“ der Entscheidung über völlig andere Themen? Trotz aller Kritik: Deutschland ist mit Angela Mer- kel als Kanzlerin insgesamt gut gefahren. Ihr(e) Nachfolger(in) tritt in große Fußstapfen. Klarer Kurs? Die diplomatisch bestimmte Route der Fregatte „Bayern“ in den Indo-Pazifik führt sie nicht zu den Trägergruppen unserer Verbündeten. Anstatt ein Si- gnal der Geschlossenheit an China zu senden, spielen wir mal wieder aus wirtschaftlichen Gründen eine Sonderrolle und streben einen Besuch in Schanghai an. Bilder von Freundschaftsovationen der Chinesen für ihre deutschen Gäste würden den Keil noch wei- ter zwischen uns und unsere Verbündeten treiben. Da muss man schon hoffen, dass dieser Besuch nicht stattfindet. 19 Jahre lang waren wir in der Region nicht präsent. Warum muss unbedingt jetzt eine F123 „Flagge zei- gen“ und als Einzelfahrer auf die Reise gehen? Wäre es nicht besser, noch ein wenig zu warten und dann eine F124, eine F125 und einen EGV nebst neuen Bordhubschraubern als Einsatz(ausbildungs-) Ver- band oder zu einer Auslands-Ausbildungsreise zu entsenden? Das hätte doch Gesicht! Ambivalentes Handeln aber auch innerhalb der deut- schen Streitkräfte selbst. Anstatt sich konsequent auf Landes- und Bündnisverteidigung auszurichten, werden weiterhin alle zivilen Bestimmungen eifrigst übererfüllt. Müssen wir wirklich für „Teamleitung (m/w/d) Panzertruppe“ werben anstatt für Panzer- kommandantinnen und -kommandanten? Tragen die EU-Arbeitszeitverordnung und die Umbenen- nung des EPa zur Abschreckung und Erhöhung der Verteidigungsfähigkeit bei? Wohl nicht, meint Ihr Burghard Lindhorst, Chefredakteur 13 Nicht nur defensiv handeln können – Erste Grundsatzrede des neuen Inspekteurs der Marine 14 Deutschland kauft fünf P-8A Poseidon 17 Neue Flottendienstboote 18 23. Marineworkshop der DWT 22 Tagesbefehl des Befehlshabers der Flotte und Unterstützungskräfte – Auslaufen Fregatte BAYERN zum Indo-Pazifik Deployment 2021 vom 2. August 2021 28 Ausbildung mit Leidenschaft! – Interview mit Generalmajor Norbert Wagner, Kommandeur Ausbildungskommando 40 „Goodbye Huey“ – Abschied von der Bell UH-1D 42 Heeresflieger üben Brandbekämpfung 45 C-UAS Class I – eine neue Zielkategorie und Herausforderung 3 Editorial Politik 8 Kein Wille zum Kampf 9 Wieder am Punkt Null? – Bewertungen zweier profunder Afghanistan-Kenner 10 So gewollt …oder politisch verpatzt? Bundeswehr 6 Hilfe in der Not 12 Tag der Bundeswehr – Standorte 2022 Inhalt 4/2021 Inserentenverzeichnis: ACS Armoured Car Systems GmbH. ................Seite 69 ATM ComputerSysteme GmbH ......................Seite 87 AUTOFLUG GmbH ..........................................Seite 53 Bittium Wireless Ltd .......................................Seite 105 BWI GmbH ......................................................Seite 109 Computacenter AG & Co. oHG ......................Seite 61 Daimler Truck AG ...........................................Seite U2 Damen Schelde Naval Shipbuilding BV .........Seite 15 Deutscher BundeswehrVerband ....................Seite 43 Diehl Defence GmbH & Co. KG .....................Seite 19 ELETTRONICA GmbH ......................................Seite 23 EuroSpike GmbH ............................................Seite 39 Fujitsu Technology Solutions GmbH .............Seite 99 General Dynamics European Land Systems-Mowag GmbH ..................................Seite 59 Krauss Maffei Wegmann GmbH & Co. KG .....Seite 55 Materna Information & Communications SE ....Seite 85 MEN Metallwerk Elisenhütte GmbH ..............Seite 119 National Air Cargo (Deutschland) GmbH ......Seite U3 Northrop Grumman LITEF GmbH ...................Seite U4 Rheinmetall AG ...............................................Seite 33 roda computer GmbH .....................................Seite 89 Securiton Deutschland ....................................Seite 51 Secusmart GmbH .............................................Seite 83 SZENARIS GmbH ..............................................Seite 31 AFCEA Fachausstellung ..................................Flyer Mercedes-Benz ...............................................Einleger Fähigkeitskommando Feldjäger – Nachgefragt bei BrigGen Ulf Häussler. Seite 77 ©Bw/Kai-Axel Döpke Flagge zeigen im Indo-Pazifik – Fregatte „Bayern“ ein halbes Jahr unterwegs. Seite 20 ©Bw/Nico Theska HHK 4/2021 Führen aus einer Hand! Interview mit BrigGen Ulrich Ott. Seite 36 ©Bw/Alexander Bozic Befähigung zum Kampf – Vorgestellt: das Ausbildungs- kommando des Heeres in Leipzig. Seite 24 ©Bw/Benjamin BendigBw/Kai-Axel Döpke International 106 Suchoi LTS: Wer macht mit beim „Schachmatt“? Wehrtechnik 34 „Blended Training“ – live und virtuell! – Saab liefert mobiles Gefechtsübungszentrum an die Niederlande 64 IVECO – GTF-8x8-ZLK 15 t in der Bundeswehr Historie und kontinuierliche Fortsetzung einer langjährigen Erfolgsgeschichte … 68 König Komfort- u. Rennsitze GmbH – Was wir machen, passt! 108 Forschungsergebnisse in Innovationen umwandeln! 110 LITEF – So sicher wie der Vogelzug… Inertiale Navigation ist das Kerngeschäft von LITEF 112 Virtueller Showroom 113 Präzision – Robustheit – Innovation LITEF ist seit 60 Jahren Partner der Bundeswehr Interview mit Lutz Kampmann, Geschäftsführer NG LITEF GmbH 114 Premiere: Artilleristischer Feuerkampf mit 155-mm-Geschütz aus der Bewegung – KMW präsentiert die RCH 155 im scharfen Schuss 116 Anforderungen an die Munition von morgen 121 Erneuerung der Fahrzeugflotte für die Spezialkräfte 121 Modernisierung der Radar- und Feuerleitanlagen der Fregatten F123 News 82 Personal- veränderungen Service 44 Bücher 104 Impressum 122 Themenvorschau 5/2021 48 Das Fähigkeitskommando Logistikkommando der Bundeswehr Interview mit Generalmajor Gerald Funke, Kommandeur des Logistikkommandos der Bundeswehr 54 Zwei fliegen mit einer Kappe – Gebirgstruppe und KSK führen einmalige Spendenaktion durch 56 Landmobilität – Neue Fahrzeuge – Teil 2 70 Vom Ziel her denken – Prozessmanagement in der SKB 74 Das Kommando Feldjäger der Bundeswehr – Das Fähig- keitskommando „Militärpolizei der Bundeswehr“ 78 60 Jahre Sanitätsstandort Leer: Speerspitze des Sanitätsdienstes IT der Bundeswehr 84 Der Digitalfunk BOS – technologische Notwendigkeit im behördlichen Funk 88 Resilienzkonzept für spezialisierte und Spezialkräfte 90 BWI GmbH – Marsch, marsch in virtuelle Welten 92 Computacenter – Schnelle und agile IT – Vorteile der Cloud zu eigenen Bedingungen nutzen 93 SZENARIS – Künstliche Intelligenz: Aktuelle Entwicklungen und Einsatzmöglichkeiten 94 ELETTRONICA – EMSO – Operationen im Elektro- magnetischen Raum 95 roda – die komplette IT-Fahrzeugausstattung aus einer Hand 95 MATERNA – Schutz vor Hackern durch ein Security Operations Center als Service 96 COVID-19: Fluch oder Segen für die Entwicklung von KI und Digitalisierung 98 Diehl liefert Rezertifizierungs- und Instandsetzungs- ausstattung für Seezielflugkörper 99 Securiton – Perimeterschutz zu Lande, zu Wasser und in der Luft – Mobile Monitoring von Securiton Defence 37. Jahrgang · 8,50 € HHK Ausgabe 4/2021 www.hardthoehenkurier.de FÜR EIN STARKES EUROPA Hilfe in der Not Grundsatzrede des Inspekteurs der MarineInterview mit Kommandeur Logistikkommando der Bundeswehr60 Jahre LITEF – Interview mit Geschäftsführer Lutz Kampmann Vorschau auf die AFCEA Fachausstellung ISSN 0933-3355 ©Bw/Ton Twardy, ©Bw/Julia Kelm , ©Bw/In der Au, ©Stefan Veres, ©LITEF HHK 4/2021 China und Russland – gemeinsame Interessen gegen den Westen. Seite 100 ©kremlin.ru Inhalt 4/2021 5Soldaten ziehen mit einem Bergepanzer Büffel einen Lkw aus dem Schlamm. Pioniere unterstützen die Bürger mit dem Bau einer Schwimmbrücke. Ein Soldat des 1./VersBtl 141 versorgt Kräfte vor Ort mit Kraftstoff mit einem Lkw 15 T GL Multi Tankcontainerkraftstoff (TCK) 9 Kubikmeter. Pioniere errichten für die Anwohner eine Medium Girder Bridge (MGB). Fahrzeuge der Hilfskräfte bei der logistischen Einsatzzentrale. Hagen ©Bw/Markus Urban Rech ©Bw/Tom Twardy Marienthal ©Bw/Tom Twardy Insul ©Bw/Tom Twardy ©Bw/Tobias Jesse ©Bw/Tom Twardy NürburgringHilfe in der Not Seit dem 14. Juli 2021 hilft die Bundeswehr in rund 20 Gemeinden und Städten im Kampf gegen die Fluten im Westen Deutschlands. In Nord- rhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Bayern waren zeitweise bis zu ca. 2.000 Soldatinnen und Soldaten an der Seite von zivilen Behörden und Organisationen wie THW, Feuerwehr und DRK im Einsatz. Unterstützt wurde und wird vor allem in den Bereichen Straßenräu- mung, Evakuierung, Krankentransport, Versorgung und bei der Suche nach Vermissten. An Großgerät werden neben über 350 Kraftfahrzeugen auch fünf Ber- gepanzer, zwei Brückenlegepanzer, vier Pionierpanzer, 19 Transport- panzer, 22 Kipplaster, acht Schwenklader, fünf Bagger, zwei Kräne, je- weils zwei Fennek und Eagle, 18 Krankenkraftwagen, acht Tankwagen und zwölf Feuerlösch-Kraftfahrzeuge eingesetzt. Aus der Luft halfen zehn Hubschrauber (zwei davon SAR) von Heer und Luftwaffe. Auch eine SATCOM-Anlage, ein Faltstraßengerät, eine Festbrücke, fünf MGB (Medium Girder Bridge), ein Schreitbagger, eine Faltfestbrücke, eine Trinkwasseraufbereitungsanlage und vier Feldküchen werden gestellt. Zusätzlich lieferten Recce-Tornados, der OpenSkies-Airbus A319CJ und Eurofighter – erstmals mit dem RecceLite-System – hochauflösende Luftbilder. (liho/Kdo TA) Soldaten des Gebirgsjägerbataillons 232 helfen bei der Beseitigung der Schlammmassen. Ein Transporthubschrauber CH-53 lädt Sandsäcke für den Dammbau ab. Königssee Soldaten unterstützen mit einem Autokran bei den Aufräumarbeiten. Schuld ©Bw/Gabriel Marterer Erftstadt Nörvenich Soldaten vom Taktischen Luftwaffengeschwader 31 tragen eine Waschmaschine aus einem Haus. ©Bw/Sandra Süßmuth ©Bw/Sandra Süßmuth8HHK 4/2021 Command Brunssum, sagte in einem Interview mit dem NDR, das habe „weniger mit der Ausbildung als mehr mit der Mentalität, einem Bekenntnis zum und Einstehen für den Staat zu tun.“ Das Konzept „train, assist, advise“ sei nicht aufgegangen. Für die afghanischen Soldaten existiere offenbar ein afghanischer Staat als solcher nicht, sondern nur Stammesfürsten und Warlords, die ihre jeweiligen Regionen beherrschen. Welche Lehren seien daraus für die Zukunft zu ziehen? Für Domröse lautet die Schlüsselfrage, ob man künftig bereit sei für ein nachhaltiges, im Prinzip unbefristetes Engagement in Regionen außerhalb Europas. Falls nicht, sollte man „nicht mehr hingehen!“ Evakuierungsoperation Am Montag, 16. August 2021, startete eine Eva- kuierungsoperation unter Federführung des Aus- wärtigen Amtes. Drei A400M des Lufttransport- geschwaders 62 aus Wunstorf (zwei geschützte Maschinen und ein MEDEVAC) sowie eine A310 der Flugbereitschaft starteten Richtung Taschkent. Mit an Bord ein Krisenunterstützungsteam, ein Air Mobile Protection Team sowie Sicherungskräfte aus der Division Schnelle Kräfte. In der Hauptstadt Us- bekistans wurde ein Stützpunkt eingerichtet (Hub). Am selben Abend noch konnten erste deutsche Staatsangehörige an Bord einer A400M ausgeflo- gen werden. Soweit möglich sollen deutsche Staats- bürger, gefährdete Afghanen und Staatsbürger verbündeter Nationen gerettet werden. Nadelöhr ist der Flugplatz in Kabul, der aufgrund der Sicher- heitslage nur schwer zugängig ist. Die Operation dauerte bei Redaktionsschluss noch an. Mehr in der nächsten Ausgabe. (liho) Provinz um Provinz, und am Ende Kabul selbst: Obwohl gut ausgebildet und ausgestattet, hat die Afghanische Nationalarmee keinen nennens- werten Einsatz gegen die Angriffe der Taliban und für die Verteidigung der Errungenschaften der letzten Jahre geleistet. Geradezu blitzartig haben die islamistischen Kämpfer die Kontrolle übernommen. Auch Kabul als letzte noch ver- bliebene Bastion der Regierungstruppen wur- de kampflos übergeben. Fassungslos stehen die NATO-Mitgliedstaaten und ihre Verbündeten vor dem Scherbenhaufen ihrer Politik. „Ein weitrei- chendes, lange nachwirkendes Komplettversagen des Westens mit einer schweren Belastung auch der außenpolitischen Glaubwürdigkeit in zukünf- tigen Krisen“, so bewertete es der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bun- destages, MdB Norbert Röttgen. Falsch eingeschätzt Am Krisenmanagement der Bundesregierung gibt es breite Kritik. Insbesondere wird der Vorwurf erhoben, zu spät reagiert zu haben. „Es gibt auch nichts zu beschönigen: Wir alle – die Bundesregie- rung, die Nachrichtendienste, die internationale Gemeinschaft – wir haben die Lage falsch einge- schätzt“, erklärte Außenminister Heiko Maas. Aber auch für US-Präsident Joe Biden sind die Ereignisse ein schwerer Rückschlag. Von einem „2. Vietnam“ ist die Rede. Keine Bindung zu Volk und Staat Warum haben die afghanischen Soldaten nicht gekämpft? General a.D. Hans-Lothar Domröse, ehemaliger Befehlshaber des Allied Joint Force Kein Wille zum Kampf Afghanische Sicherheitskräfte leisten keinen Widerstand gegen Taliban. Evakuierung aus Afghanistan über den Flughafen Kabul Evakuierte Personen aus Afghanistan warten in einem A400M auf die Registratur in Taschkent/Usbekistan, am 17.08.2021. ©Bw/Marc Tessensohn9HHK 4/2021 Verbündeten hätten 350.000 Sicherheitskräfte vor Ort ausgebildet und Milliarden in die Entwicklungs- arbeit gesteckt. Wenn man jetzt sehe, dass die afgha- nische Truppe den Taliban ihre Waffen hinwirft und sich wehrlos übergibt, habe das „wohl weniger mit der Ausbildung als mehr mit der Mentalität, einem Bekenntnis zum und Einstehen für den Staat zu tun.“ Zu gutgläubig Zu lange habe man davon geträumt, Demokratie in Regionen exportieren zu können, in denen es keine Grundlagen dafür gebe. Domröse hat große Sorge davor, dass das Land zurückfällt. „Denn viele Men- schen, die gebildet und westlich geprägt sind, wer- den ihre Heimat verlassen. Die sagen sich: ‚Bevor die uns den Hals durchschneiden, hauen wir besser ab.‘ Auch die meisten NGO-Mitarbeiter werden das Land verlassen. Die einfachen Menschen werden den Ta- liban und ihren archaischen, mittelalterlichen Welt- vorstellungen überlassen.“ Der Abzug ohne ein Friedensabkommen sei ein Fehler, meint Domröse. „Man hätte einen Vertrag mit den Taliban abschließen sollen – vielleicht auch schon vor zehn Jahren – und die Einhaltung dann über einen längeren Zeitraum kontrollie- ren müssen.“ ©Bw/Detmar Modes General Hans-Lothar Domröse spricht in Kabul anlässlich des Überganges von ISAF zur Mission „Resolute Support“ 2014. ©Bw/Richard Sherba Wieder am Punkt Null? Bewertungen zweier profunder Afghanistan-Kenner Winfried Nachtwei war von 1994 bis 2009 Bundes- tagsabgeordneter für die Grünen. Er hat von Anfang an den Afghanistaneinsatz intensiv begleitet, war an 20 Mandatsentscheidungen beteiligt und 20 Mal vor Ort. Im Interview mit der „taz“ zieht er eine erste Bilanz. „Wesentliche strategische Ziele wurden eindeutig verfehlt“, sagt Nachtwei. Zwar sei al-Qaida zurück- gedrängt, aber das Ziel, ein sicheres Umfeld mit den afghanischen Sicherheitskräften zu schaffen, sei ver- fehlt worden. Keine klare Strategie Ein ganzes Bündel von Gründen sei die Ursache für das Scheitern. „Erstens hatte die Staatengemein- schaft keine Strategie. Es gab keine klaren und über- prüfbaren Aufträge. Zweitens gab es von Anfang an einen elementaren Dissens. Die USA unter Bush kon- zentrierten sich auf militärische Terror-Bekämpfung ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung, während die Mehrzahl der anderen Verbündeten den Wie- deraufbau unterstützen wollte. Drittens wurden die Herausforderungen gigantisch unterschätzt. Viertens kam mangelnde Landeskenntnis und mangelndes Konfliktverständnis hinzu. Dann fünftens, die Frage der Partnerwahl. Verbündete waren zu oft die alten Warlords statt reformorientierte Kräfte. Sechstens ganz wichtig: dass über viele Jahre die Notwendigkeit einer politischen Lösung mit den Taliban nicht gese- hen wurde. Da gab es Vorstöße, auch von deutscher Seite, aber die USA haben das vor dem Hintergrund der eigenen Hybris lange abgeblockt.“ Die deutschen Frauen und Männer, die nach Afgha- nistan entsandt wurden, „waren klasse“, betont Nachtwei. Aber die „deutsche Diplomatie und die Polizeiausbildung waren quantitativ zu schwach auf- gestellt…Der Knackpunkt war ein kollektives politi- sches Führungsversagen in sehr vielen Hauptstädten.“ Nachtwei fordert eine unabhängige Evaluierung mit Fachleuten, wie etwa in Norwegen geschehen. Beistand war richtig General a.D. Hans-Lothar Domröse war u. a. Chef des Stabes im HQ ISAF und Befehlshaber des Allied Joint Force Command Brunssum. „Nach den Anschlä- gen vom 11. September wurde zum ersten Mal in der Geschichte der NATO der Bündnisfall ausgerufen. Es war damals richtig, den USA beizustehen“, sagt er im Interview mit BILD. „Die traurige Bilanz ist: Wir sind wieder am Punkt Null. Unsere Bemühungen haben of- fenbar nicht gereicht. Es gab phasenweise Hoffnungs- schimmer, Wohlstand, Ausbau von Schulen und Kran- kenhäusern, freie Wahlen. Aber die Verbesserungen waren nicht nachhaltig genug.“ Die NATO und ihre Winfried Nachtwei (Mi.) bei der Begleitung einer Patrouille nahe Kabul 2003.Next >